The Blue Flame – ein Rekordfahrzeug, das konnte aber nicht durfte

Sie ist elf Meter lang, stahlblau und erinnert an eine Rakete - nur die Räder deuten an, dass es ein Auto sein könnte. Am 23. Oktober 1970 fuhr der Amerikaner Gary Gabelich mit diesem Raketenvehikel schneller als 1000 km/h und stellte damit einen neuen Temporekord für Landfahrzeuge auf. Dieses Geschoss, bekannt als „The Blue Flame“, steht seit über 30 Jahren im Technik Museum Sinsheim. Auf den Tag genau, 50 Jahre später, besuchte uns ein Herr, der sich mit dieser Blue Flame und Geschwindigkeit bestens auskennt: Thomas „Pork Pie“ Graf – er ist einer der fünf weltweit anerkannten Historiker für Geschwindigkeitsrekorde. Er ist aber auch der einzige, der als Zeitzeuge auftritt: Mit einer Kamera ausgestattet, ist er bei den Versuchen, die Rekorde zu brechen, dabei. Anschließend überließ er uns diesen spannenden Bericht: The Blue Flame – ein Rekordfahrzeug, das konnte aber nicht durfte….

Der 23. Oktober 1970 war ein ganz spezieller Tag in der Geschichte der Geschwindigkeitsrekordfahrt…für mich, im Übrigen, auch. An diesem Tag vor 50 Jahren stellte Gary Gabelich mit der Blue Flame einen neuen, absoluten Geschwindigkeitsrekord auf. Die Blue Flame - viel wurde über sie geschrieben, einiges ist bekannt. Es gibt aber auch unbekannte Fakten und Geschichten und über die möchte ich erzählen.

Als 1965 drei junge Enthusiasten die Idee hatten, einen neuen Weg zu gehen, um die höchst mögliche Geschwindigkeit zu Lande zu erreichen, hatte in der Welt der Rekordfahrten gerade eine Revolution stattgefunden. In kürzester Zeit wurde die Geschwindigkeit in eine Höhe getrieben, von der man ein paar Jahre vorher nicht mal geträumt hatte. Diese drei, Dick Keller, Pete Farnsworth und Ray Dausman kamen zum Ergebnis, das alle bisherige Rekordfahrzeuge aus aerodynamischer Sicht Scheunentore waren und der einzig wahre Antrieb nur ein Raketenmotor sein konnte. Um das zu beweisen, bauten Sie zuerst einen kleinen Raketenmotor, der nicht größer als eine Handfläche war. Mit diesem konnte man natürlich keine Sponsoren überzeugen, so entstand der X-1, der erste Dragster mit Raketenantrieb, der erfolgreich war und immer neue Rekorde auf der Viertelmeile fuhr. Damit konnte man Sponsoren imponieren, Reaction Dynamics wurde gegründet, die Blue Flame wurde gebaut und der Rest ist Geschichte….

Und was ist jetzt daran das Besondere?
Schauen wir uns doch einmal die Jahre davor an. Bis Anfang der Sechziger war der absolute Geschwindigkeitsrekord ganz einfach. Die Vorschrift bei der FIA – das ist die internationale Organisation für Automobile, die FIM ist für Motorräder: Es gab keine. Man konnte verwenden, was man wollte. Man musste nur schnell genug über die fliegende Meile oder den Kilometer sein und das innerhalb von einer Stunde in gegenläufige Richtungen; und ein Prozent schneller sein als der bisherige Rekord (diese Ein-Prozentregel wurde 2011 abgeschafft). Deshalb wurden seit den Dreißigerjahren die Rekorde mit Großvolumigen Motoren aus Propellerflugzeugen aufgestellt. Seit 1947 hielt John Cobb im Railton Special den Rekord. In eine Richtung war er der erste, der schneller als 400 Meilen war. Der Rekord lag bei 394 Meilen (ca. 635 km/h). Und dann war jahrelang Ruhe.

Keiner kam nur annähernd an diese Geschwindigkeit. 1960 fuhr Mickey Thompson mit seinem Challenger I über 400 Meilen, leider nur in eine Richtung; aber der Aufwand war enorm: Vier Motoren mit Kompressor steckten unter der Haube. Zur gleichen Zeit tauchten die ersten Andersdenkenden auf. Damals konnte man recht günstig ein Jet-Triebwerk kaufen – Rückstoßantrieb. Als erster erfolgreich damit war Craig Breedlove. 1963 stellte er den ersten Rekord über 400 Meilen/h auf. Das Fahrzeug, ob dies überhaupt ein Fahrzeug im Sinne von Automobil war, hatte drei Räder und ein Jet-Triebwerk.

Die FIA konnte damit gar nichts anfangen. Die FIM machte kurzerhand daraus ein Dreirad mit Rückstoßantrieb und erklärte es zum schnellsten Landfahrzeug der Welt (mit 407 Meilen). So stellte sie zum ersten Mal den absoluten Rekordhalter. Um das Chaos perfekt zu machen, fuhr Donald Campbell im Juli 1964 in einem radgetriebenen Fahrzeug mit Turbinenantrieb einen Rekord mit 403 Meilen. Dieser war für die FIA der schnellste. Wie die Fahrzeuge mit Jet-Triebwerke einzustufen waren, darüber war sich die FIA noch nicht klar. Und von denen gab es ab 1964 mehr als genügend: Breedloves Rekord wurde zuerst von Tom Green im Wingfoot Express von Walt Arfons überboten, Art Arfons (ein Halbbruder von Walt) war der nächste. Dann kam Craig Breedlove wieder an die Reihe. Tom Green wurde von der FIA anerkannt (somit hatte die FIA wieder das schnellste Landfahrzeug). Breedlove fuhr immer noch sein Dreirad und wurde sowohl von der FIA als auch der FIM anerkannt – obwohl ein Rad fehlte!!!!! Breedlove war dann auch der erste, der schneller als 500 und 600 Meilen fuhr und der dadurch zu einer Legende in der Geschichte des Geschwindigkeitsrekorde wurde.

Ende 1965 war die Schlacht zwischen Craig Breedlove und Art Arfons erstmals zu Ende aber das Chaos in den Rekordbüchern der FIA und FIM noch lange nicht: hier Kolbenmotor, hier eine Turbine und dann noch Jet-Triebwerke. Die FIA löste das Problem auf folgende Weise: Seit 1965 unterschied man zwischen radgetriebenen Rekorde (wir nennen sie Puristen) und rückstoßgetriebene, die den absoluten Rekord stellen. Die FIM brauchte etwas länger. Als keiner mehr den Durchblick hatte, wurden 1979 alle Rekorde eingefroren und die Kategorien komplett neu aufgestellt.

Zurück zu den drei jungen Männern und der Blue Flame.
Das Trio war der Meinung, all diese Rekorde wurden nur mit purer Gewalt erreicht anstatt mit Aerodynamik. So wurde die Blue Flame das erste Fahrzeug, das wissenschaftlich entwickelt wurde. Frühere Rekordfahrzeug wurden auch schon im Windkanal getestet, so wurde 1927 der Stutz Black Hawk von Frank Lockhart im MIT Windkanal optimiert – in einer Universität und als Studentenprojekt. Die Konstruktion des Raketenmotors unterlag Reaction Dynamics. Eigentlich nichts Neues, eher nur ein Fortschritt in der Entwicklung eines Rekordfahrzeugs. Und was soll dann die Überschrift „konnte aber nicht durfte“?

Der Raketenmotor wurde ursprünglich als Dreistufen-Motor konzipiert. Das Treibstoffgemisch musste ja zuerst zur Reaktion gebracht werden und erst mit diversen Katalysatoren hat der Motor in seiner dritten Stufe die höchste Leistungsausbeute - wunderschön, wenn nicht der Reifenhersteller Goodyear gewesen wäre. Die Konkurrenz Firestone war nach einigen Ausfällen aus der Rekordfahrt ausgestiegen: Geplatzte Reifen und heftige Unfälle sind keine gute Reklame. Goodyear limitierte aus Angst, das Gleiche zu erleben, die Geschwindigkeit auf 700 Meilen (Breedloves Rekord stand bei 600 Meilen). Um unter 700 Meilen zu bleiben, so hatten die Windkanaldaten es aufgezeigt, war die dritte Stufe viel zu stark. Die zweite Stufe hatte leider ein kleines Problem: Sie gab nur 60 Prozent der möglichen Leistung ab, verbrauchte dabei aber vielmehr Treibstoff als in der dritten Stufe.

Über die Rekordfahrt der Blue Flame gibt es einen wunderschönen Film: Zum Schluss wird Gary Gabelich gefeiert und im Hintergrund die Stimme von Joe Petrali, der die neue Rekordgeschwindigkeit verkündet. Alles nur Hollywood. Das Filmteam war wochenlang mit auf dem Salzsee. Kurz vor der Winterzeit auf dem Bonneville Salt Flats war die Blue Flame nahe am Rekord aber nicht schnell genug. In der Hoffnung, dass es doch noch klappt, inszenierte das Filmteam die Feier, um später die Stimme von Joe Petrali einzuspielen und verließ das Salz, um nach Hause zu fahren.

Dass Problem war der Treibstoffverbrauch. Die Lösung: Damit auf den ersten Metern nicht zu viel verloren ging, wurde die Blue Flame angeschoben. Etwas abenteuerlich, wenn man bedenkt, es handelt sich hier um einen Raketenmotor. Ein Kalifornier aus der Rekordszene hatte das passende Auto - ein Pick Up auf Steroiden mit einem leicht modifizierten Motor…ganz leicht!!! Er schob die Blue Flame an, bei ca. 100 Meilen fuhr er zur Seite und Gary Gabelich starte den Motor. So geschehen am 23. Oktober 1970. Und da war der Rekord! Was hätte dieses Fahrzeug mit der dritten Stufe erreichen können?! Die Goodyear hatte sich total geirrt. Der Reifensatz wurde für alle Fahrten benutzt. Ein Reifen musste getauscht werden, weil er beim Rangieren der Blue Flame beschädigt wurde. Für die Amerikaner oder alle, die in Meilen denken, war es nur ein neuer Rekord über 600 Meilen. In Kilometern sieht die Sache anders aus: 1001 km/h über die Meile und 1014 km/h über den Kilometer (1970 war ein Sportwagen der 200 fuhr, schnell).

Doch die Geschichte geht weiter. Wir hatten es über das Chaos bei der FIA mit den nun gesplitteten Rekordlisten. Die FIA machte sich danach noch weiter das Leben schwer, indem sie diese Listen immer wieder änderten. 1983 fuhr Richard Noble einen neuen Rekord - aber nur über die Meile. Für den Kilometer-Rekord reichte es wegen der Ein-Prozent-Regel nicht. Zu diesem Zeitpunkt war die Kategorie „absoluter Rekord“ nicht mehr in Jet und Rakete aufgeteilt. 1997 fuhr Andy Green dann als erster schneller als der Schall und brach dabei auch den Kilometer-Rekord der Blue Flame. Seit einigen Jahren wird von der FIA wieder in Jet- und Raketenantrieb unterschieden und somit hat die Blue Flame wieder ihren Weltrekord - nicht den absoluten aber ihren Weltrekord.
Und das 50 Jahre später……ist das ein besonderer Rekord? Und ob das ein besonderer Rekord ist – JA!

Für mich war der 23. Oktober 1970 der Anfang meiner Geschichte als einer der weltweit anerkannten Historiker für Geschwindigkeitsrekorde. Ohne die Blue Flame hätte mich der Virus of Speed (wie die Amerikaner es gerne nennen) nie gepackt und dafür gibt es keine Heilung nur Rekorde.

Thomas „Pork Pie“ Graf
Historian, Photoartist, Bonneville 200 MPH Club Member

Haftungshinweis zur Richtigkeit + Copyright

Die in diesem STORIES-Bereich erzählten Geschichten und Berichte geben ausschließlich die Meinung und Sichtweisen der jeweiligen Autoren wider. Bitte beachten Sie, insbesondere bei Berichten zu unseren Museumsveranstaltungen, dass verbindliche Informationen (z.B. zu den Öffnungszeiten, Eintrittspreisen und Programmpunkten), ausschließlich auf der offiziellen Museumwebsite www.technik-museum.de veröffentlicht sind.
Bitte beachten Sie ferner, dass die in diesem Bereich veröffentlichten Bilder, Texte und Videos dem Copyright der jeweiligen Autoren und/oder dem Museum unterliegen und ohne Genehmigung nicht verwendet werden dürfen.


Über Neuigkeiten auf dem Laufenden bleiben
Wir empfehlen unseren Museumsnewsletter per E-Mail zu abonnieren. Am Ende eines jeden Newsletters informieren wir über neue Geschichten, somit verpassen Sie keinen Artikel. Alternativ können Sie auch einen RSS-Feed abonnieren:
Newsletter abonnieren RSS-Feed (Reader erforderlich)